Zeitzeugin Ruth Müller
Ruth Müller ist fast so alt wie der SPD-Ortsverein in Lichtenfels. Mit 99 Jahren braucht sie kein Blatt vor den Mund nehmen – doch das hat sie in ihrer politischen Arbeit eh nie. Als sie in die SPD eintrat, war sie bereits 60…
Ruth, du kannst auf eine lange Zeit in der SPD zurückblicken und auf eine noch viel längere in deinem Leben. Was beschäftigt dich heute in der Partei?
In letzter Zeit weiß ich nicht mehr so genau, was die SPD so macht. Aber ich habe 2014 noch Wahlkampf für den Andi gemacht. Und ich bin froh, dass er als Bürgermeister durchkam. Vor kurzem war ich auf einer Ortsvereinssitzung, auf der der Andreas Starke gesprochen hat. Ich kannte den als ganz jungen Mann, der ist mir auch schon irgendwann einmal über den Weg gelaufen…
Dein Weg in der Partei war ja auch lang…
Das kannst du laut sagen, dabei bin ich ja recht spät dazu gekommen. Das war 1980, ich war 60 Jahre alt, mein Mann war gestorben und ich wollte nicht nur zuhause rumsitzen. Da war noch offen, wo ich hingehe. Die CSU ist für mich nie in Frage gekommen. In meinen Augen sind die nicht erdig. Die tragen das C im Namen, aber nichts davon im Programm. Mein Vater und mein Mann waren in der FDP. Mein Vater kannte Theodor Heuss noch aus seiner Jugendzeit in Berlin – ich habe ihn aber nie getroffen. Ich bin in Preußen aufgewachsen und dann nach Bayern gekommen. Das war mit der Hochzeit 1943. Dann habe ich mir überlegt, ob ich mich in der Kirche engagieren soll. Aber in Bayern war das für mich keine Option. Klar war für mich: Ohne Rückhalt kannst du nichts machen. Es geht nur mit anderen zusammen.
Dann ist nur noch die SPD übrig geblieben?
Ganz so war es auch nicht. Ich habe mich besonnen, worum es mir geht. Mein Großvater war zum Beispiel sehr sozial eingestellt und hat immer auch die Frauen gefördert. Meine Mutter und meine Tanten haben alle einen Beruf gelernt. Das war um 1900 rum – da war das überhaupt nicht selbstverständlich. Ich wollte mich stark machen für die Frauen und das Frauenrecht, damit es nicht nur auf dem Papier steht. Seit 1969 steht das im Gesetz – und was ist passiert? Auch in der SPD sind es nur Männer.
Also ist die SPD auch ausgeschieden?
Nein. Fred Bogdahn hat uns sehr unterstützt. Er hat mich dann immer wieder gefragt, ob ich nicht zu diesem und zu jenem Treffen mitkomme – und so bin ich dann zur SPD gekommen. Ich habe mich zuerst für die Frauen eingesetzt – und dann auch auf Grund meines Alters für Ältere. Wir haben die Arbeitsgemeinschaft 60+ gegründet – und ich war ständig auf Achse. Jahrelang. Wenigstens einmal im Monat war ich in München und so weiter.
Und die Frauen waren froh, dich zu haben?
Ach was. Wir haben erst mal erreicht, dass wenigstens manchmal die Frauen auf den Wahllisten vordere Plätze bekommen. Aber du hast ja kaum Frauen gefunden. Die wollten nicht.
Wie, die wollten nicht?
Die Frau hat für gewöhnlich das gewählt, was ihr Mann gesagt hat – und nicht selbst nachgedacht. Klar lernen Frauen jetzt Berufe und können arbeiten gehen. Aber sie bekommen für die gleiche Arbeit immer noch weniger Geld. Wir haben lange gekämpft, aber was ich sehe, ist, dass die jungen Frauen nach wie vor abhängig von den Männern sind. Oder: Sie machen sich abhängig. Das weiß ich nicht. Da können wir heute in die Familien blicken: Denken die Frauen nach? Sind sie unabhängig von den Männern? Ich glaube nicht. Die machen, was der Mann sagt, damit er nicht fremd geht.
Beschreibst du da nicht deine Familienzeit, als du kleine Kinder hattest?
Von wegen. Bei uns war es ja noch ganz anders. Den, den du wirklich geliebt hast, den hast du nicht bekommen. Die meisten waren ja von den Eltern schon versprochen. Der Sohn musste die dann heiraten. Und die Mädchen sowieso. Richtig selbständig bin ich erst geworden, als ich alleine war. Und dann musst du dich plötzlich wirklich um allen Dreck kümmern. Als Mädchen durftest du nicht über das verfügen, was du erarbeitet hast. Du hast beim Haushaltsgeld schummeln müssen, damit du überhaupt mal das Geld für eine Tasse Kaffee hattest – und ehrlich gesagt: In den Familien sehe ich da heute noch schwarz. Die meisten Ehen gehen wegen des Geldes auseinander.
Du malst ein ganz schön düsteres Bild.
Ich sage nur, wie es ist. Und manches ist ja schon ein klein wenig besser geworden. Die Geschäftsfrauen in Lichtenfels sind früher immer Mittwochnachmittag eingekehrt. Nachdem meine Tochter 1969 nach Kanada ausgewandert ist, war ich natürlich auch immer wieder bei ihr. Und bin mit einer Jeans nach Lichtenfels gekommen. Was meinst du, was ich mir da anhören musste? In den 1970er-Jahren mit einer Jeans über den Marktplatz laufen? Das ging gar nicht. – Aber das das normal ist, immerhin das haben wir erreicht.
Die SPD war deine zweite Partei.
Du meinst, weil ich bei den Nazis Mitglied war? Ob du es glaubst oder nicht, ich wusste viele Jahre lang gar nicht, dass ich Mitglied war. Meine Mutter hat mich da angemeldet – und wenn der kam, der jeden Monat kassiert hat, hat sie für mich die Beiträge gezahlt. Erst als ich für mich selber sorgen musste, da war ich 27, war das für mich bewusst. Es wurde da nie drüber gesprochen.
Deine Mutter war auch die, die nach dem Krieg dein Parteibuch verbrennen wollte…
Ja – und ich habe es versteckt. Was geschehen ist, ist geschehen. Das kann ich doch nicht ungeschehen machen, indem ich ein paar Zettel verbrenne. Und ich muss sagen, mit dem Nationalsozialismus sind wir Mädchen ab 1933 etwas freier geworden. Das war so. Ich war natürlich beim Bund deutscher Mädchen – und habe auch einmal eine Gruppe von Mädchen auf den Obersalzberg geführt, als Hitler gerade dort war. Er hat mir die Hand geschüttelt. Ich bereue diese Zeit nicht. Ich durfte und musste in meinen 99 Jahren so viel erleben und mitmachen. Was kommt, das musst du nehmen, wie es ist. Was war, wird abgehakt. Irgendwelchen Zeiten nachtrauern? Da wirst du ja nie fertig…
– Autor: Tim Birkner –